Kalenderblatt - "Armenhaus" Wangelist
30. August 1969 -
Der Abbruch des sogenannten Armenhauses in Wangelist -
Das
Ende einer 500 Jahre alten Tradition
Die zehn Aussätzigen
Und es begab sich,
da er reiste nach Jerusalem, zog er zwischen Samarien und Galiläa hin. Und
als er in ein Dorf kam, begegneten ihm zehn aussätzige Männer, die standen
von ferne und erhoben ihre Stimme und sprachen: Jesu, lieber Meister, erbarme
dich unser! Und da er sie sah, sprach er zu ihnen: Gehet hin und zeiget
euch den Priestern ! Und es geschah, da sie hingingen, wurden sie rein.
Lk.17,11-1 4
An diesem biblischen Beispiel wird deutlich, wie die Lebensumstände von Aussätzigen bis zum Abklingen der Lepra aussahen. Isoliert von der Gesellschaft lebten die Kranken gemeinsam in eigens für sie errichteten Hütten an wichtigen Handelsstraßen, um sich von der Bettelei zu ernähren. Sobald sich Fremde näherten, mussten sie durch lautes Rufen oder Lärmschlagen auf sich und ihre ansteckende Krankheit aufmerksam machen. Erst mit dem dritten Laterankonzil von 1179 wurde bestimmt, dass die Leprosen zwar weiterhin isoliert leben, aber ihre eigene Kirchen, Friedhöfe und Priester erhalten sollten. Mit dieser Bestimmung schossen die Leprosorien nur so aus dem Boden. Im 12./13. Jhdt. soll es in Mitteleuropa ca. 20 000 von diesen Einrichtungen gegeben haben.
Charakteristisch für die Leprosorien war, dass sie weit vor den Toren der Stadt an den Hauptzufahrtsstraßen auf einem gesonderten Terrain lagen. Anfangs bestanden die Häuser aus hölzernen Baumaterialien. Nur die zugehörige Kapelle baute man aus Stein. Die Nähe einer Quelle und eines Wasserlaufs war wesentlich, um die Ver- und Entsorgung des Grundstückes sicherzustellen. Zusammen mit den Wohnungen für die Kranken und für die Pflege- und Hilfskräfte, den landwirtschaftlichen Gebäuden, der Kapelle, dem Friedhof und der alles umschließenden Mauer entstand eine dörfliche Siedlung.
Das Bild von Holst gibt gut die Geschlossenheit der Siedlung wieder.
Das Siechenhaus in Wangelist ist älter als die Kapelle. Die erste urkundliche Erwähnung stammt aus dem Jahre 1431. Im Urkundenbuch II 173 bestimmt der Kanoniker Colmann folgendes: „Auch sollen sie alle Jahr im Wert von zehn Gulden hildesheimisch graues und weißes Tuch dem Siechenhaus für seinen Bedarf zuteilen, wenn Insassen dort leben, und weiter verschämten Armen, solange das dauert zur Kleidung geben. Ferner zwei Gulden zu Hemden diesen vorgenannten armen Leuten.“
In einem Konzessionsbrief von 1466 gestattet Bischof Albert von Minden den Armen, eine Kapelle mit einem Altar neu zu bauen und dabei einen eigenen Friedhof einzurichten. Aber erst 1469 konnte der Bau der Kapelle verwirklicht werden, als sich Johan Kreienberg, Kirchherr bzw. Pfarrer in Aerzen der Sache in Form einer Stiftung annahm. Die Älterleute, also der Kirchenvorstand, erhielten die Befugnis, einen Priester zu berufen, der die Messe zu lesen und andere gottesdienstliche Verrichtungen wahrzunehmen hatte, darüber hinaus aber auch das Begräbnisrecht ausüben durfte. Dies alles jedoch, ohne dass der Pfarrkirche, also St. Bonifatius, daraus Nachteile erwachsen sollten. Dem Kapitel von St. Bonifatius gehörten die am Altar niedergelegten Opfergaben, während die in den 'Block' eingeworfenen oder persönlich erbetenen Almosen den Älterleuten zur Beschaffung von Wein, Oblaten, Licht und Altarlaken verblieben. Die Älterleute entstammten jeweils der Bäcker- und Schumachergilde aus Hameln.
Mit dem Verschwinden der Lepra im 1 5. Jahrhundert, spätestens im 17. Jahrhundert , wurden die Siechenhäuser häufig in Gast-, Armen- oder Waisenhäuser umgewandelt, verkauft oder verpachtet oder an soziale Einrichtungen, den städtischen Armenfonds oder die Kirche übertragen. Neben der Aufnahme von Armen kommt das Prinzip der Verpfründung auf, d.h. man erwarb ein Pfründe, bzw. 'eine Pröve', um für das Alter versorgt zu sein. Während die geistlichen und seelsorgerischen Tätigkeiten im Aufgabenbereich der Kirche verblieben, haben die Städte – meistens gegen den zähen Widerstand der Kirche – Verantwortung für die Wohlfahrtspflege durchgesetzt. Dieser Prozess war im 15. Jahrhundert weitgehend abgeschlossen, so auch in Wangelist, wie aus den Quellen hervorgeht.
Das Siechenhaus unterstand im 15. Jahrhundert der obersten Leitung und Aufsicht des Rates, vor allem des Bürgermeisters . Mit ihm übten die Gildemeister die allgemeine Aufsicht aus, nahmen die Rechnungsprüfung vor, vollzogen die Wahl der Provisoren. Diese waren seit dem 15. Jahrhundert Vertreter der Schuhmacher- und Bäckergilde. Ihnen oblag als Pflegern praktisch die Verwaltung der Anstalt wie der Kapelle, sie vertraten die gesamte Stiftung, bestellten mit dem Bürgermeister den Kapellan oder Priester und sorgten für die Unterhaltung der Baulichkeiten. Die Anlage bestand aus einem größeren Gebäude mit sechs, einem weiteren mit zwei und einem dritten Gebäude mit einer Wohnung für das Glöcknerehepaar, die als Hausmeister für Ordnung zu sorgen hatten, sowie einem Pferdestall. Die Prövener bewohnten jeweils eine Stube und eine Kammer und nutzten einen Gartenanteil. Das Haupthaus wurde 1790, das Anwesen mit Stall bereits 1730 durch einen Neubau ersetzt.
Seit 1598 gab es eine nach und nach zum Gewohnheitsrecht gewordene Bierspende, die schließlich 30 Tonnen jährlich erreichte (1 Tonne = 36 Maß) und erst 1896 abgelöst wurde. Dazu kam der erste Mai- und Herbstlachs. Gelderträge brachten die Armenstöcke am Hause und an der Kapelle sowie die Sammelbüchsen, mit denen wöchentlich in der Stadt gesammelt wurde. Bis 1924 wurden ferner zehn Klafter Buchen- und Eichenholz geliefert.
Bis 1967 genoss das Altenheim unter der Leitung der Stadt Selbständigkeit. Zu dieser Zeit waren die Provisoren Bäcker Mensing und Schuhmacher Fritz Müller. Am 30.8.1969 wurden die Gebäude für den Ausbau der Bundesstraße 1 abgerissen, und damit das Ende einer mehr als 500 Jahre alten Tradition besiegelt.
Autorin: Dagmar Köhler
Literatur: Matthias Biester, Klaus Vohn-Fortagne, Armut, Bettel und
Gesang, Hameln 2003. Stadt im Wandel,
Kat. Landesausstellung
Niedersachsen 1985, S. 666 f.