Kalenderblatt
Ende 1936 -
Die „Frontkämpfersiedlung der SA“ an der Holtenser Landstraße
ist gebaut
Im Zuge des Baues neuer Wohnsiedlungen - vorrangig für finanzschwache Bevölkerungsgruppen am damaligen Stadtrand Hamelns - wurde 1933 mit der Erschließung des Geländes zwischen heutiger Löns- und Gorch-Fock-Straße begonnen.[i] Zunächst von privater Seite initiiert, spielte man unter dem eigens kreierten Namen „Bergstadt Hameln“ auf die besondere Wohnlage an, die einen attraktiven Blick über Hameln versprach.
Angeblich um spekulative Absichten auszuschließen, erwarb die Stadtverwaltung wenig später das Areal; fast umgehend legte Stadtinspektor Krumsiek, zugleich „Siedlungsreferent“ der Hamelner SA, 1934 Pläne vor, die nunmehr eine eigene „Frontkämpfersiedlung“ der örtlichen SA-„Standarte 164“ im oberen Bereich der „Bergstadt“ vorsahen.
Nachdem mit der Etablierung des NS-Regimes die Dienste der SA als Schlägertruppe nicht mehr gefragt waren, hatte die SA mit dem Siedlungsbau offenkundig ein neues, den Mitgliedern persönliche Vorteile versprechendes Betätigungsfeld entdeckt; zudem eröffnete sich die Chance auf ein populäres, propagandistisch gut zu „vermarktendes“ Vorzeigeprojekt der NS-„Bewegung“ und ihrer deutschnationalen Verbündeten. So sollte mit dem Anspruch, ein „monumentales Denkmal der Kriegskameradschaft und des freiwilligen Einsatzes während der Kampfzeit der Bewegung“ zu sein, eine Mustersiedlung des modernen Wohnungsbaues entstehen.
Um das Projekt in die Tat umzusetzen, gründete sich 1935 ein „Arbeitsausschuss“ der SA; ihm gehörten außer Krumsiek drei „prominente“ Mitglieder des NS-Stadtrats an, die später selbst (!) zu den Bewohnern zählten (Kalusche, Busching, Schünemann). Anfang 1936 verpachtete die Stadt 33 Bauparzellen geschlossen für eine eigene Siedlung an „Frontkämpfer“ (des 1.Weltkriegs) und „alte Kämpfer der SA“ (aus der Zeit bis 1933); sie kam den Bauherren durch (günstige) Erbpachtkonditionen entgegen, während Stadt- und Kreissparkasse bei der Hausfinanzierung „halfen“, wie die „gleichgeschaltete“ Presse anerkennend berichtete.
Da Verwaltung und Stadtrat inzwischen von den Nazis okkupiert worden waren, dürfte es mithin für „verdiente“ Parteigänger, zumal für die in städtische Institutionen eingedrungenen, nicht allzu schwer gewesen sein, an Grundstück und Baugeld zu kommen.
Die durchschnittlichen Baukosten lagen bei 8500 Reichsmark. Darüber hinaus hatten die Bauherren, wie im zeitgenössischen Siedlungsbau üblich, Eigenarbeit zu erbringen, womit in erster Linie gemeinschaftliche Schachtarbeiten (damals noch per Hand) gemeint waren. Der „erste Spatenstich“ erfolgte Mitte Mai 1936. Da es um ein Projekt der SA als Organisation ging, hatten sich die „Stürme“ (=Unterabteilungen) der SA und das NSKK (=Nationalsozialistisches Kraftfahrzeugkorps) an den Erdarbeiten zu beteiligen. Da also hunderte von „Kameraden“ halfen (mussten), wurden schon bald Richtfeste unterm SA-Zeichen (statt Richtkranz!) gefeiert. Die Bauarbeiten waren nach kaum mehr als sechs Monaten so weit fortgeschritten, dass die Häuser Ende des Jahres 1936 bezogen werden konnten.
Erdarbeiten 1936, Quelle: NTZ vom 28./29.11.1936
Das Baugelände im Sommer 1936, Quelle: Dewezet vom 11.7.1936
Die „Frontkämpfersiedlung“ wurde von drei neuen Straßen erschlossen: der Karl-Dincklage-Straße (heute Münchhausenstr./Nordteil) und der Dietrich-Eckhard-Straße (heute Flemesstr./Nordteil), die beidseitig komplett bebaut waren, sowie der Gorch-Fock-Straße am Ostrand, an der erst drei Häuser standen.
Mit den drei Namensgebern wird der ideologische Anspruch gleichsam an Personen festgemacht. Gorch Fock war ein nationalistischer Dichter und Kriegsteilnehmer und die beiden anderen führende NS- und SA-Funktionäre der ersten Stunde. Nach ihrem frühen Tod wurden sie von der Propaganda zu Wegbereitern bzw. Vorbildern der NS-„Bewegung“ stilisiert.[ii]
Elf der 33„Siedler“ haben in Quellen und Literatur als Nazis Spuren hinterlassen, darunter fünf als führende Funktionäre Hamelns. Die bedeutendsten waren Richard Kalusche und Emil Busching[iii], die Nachbarn in der Dincklagestr. Nr. 8 und Nr. 9 wurden.
Kalusche war als oberster SA-Führer Hamelns hauptverantwortlich für den Straßenterror in Hameln bis 1933 und war auch selbst als brutaler Schläger bekannt. Busching kann nach 1933 als der wohl wichtigste Schreibtischtäter gelten. Als amtierender OB war er der oberste Verantwortliche vor Ort für die Beraubung und Deportation der Hamelner Juden sowie als Vorgesetzter der Ortpolizei verantwortlich für die Auslieferung von Hamelner Polizeigefangenen an die Gestapo, die sie oftmals in KZs verschleppte.
Gleich nebenan in die Nr. 11 zog etwas später Helmut Soltsien ein, der Leiter des „rassepolitischen Kreisamtes“. Zugleich „Gauredner“ der NSDAP, avancierte der SS-Mann in Kriegszeiten zum Leiter der örtlichen Außenstelle des gefürchteten „Sicherheitsdienstes“ (SD) der SS, der ein zentraler Bestandteil des NS-Terrorapparats war. Ein paar Häuser weiter wohnte der NS-Propagandaleiter des Kreises Hameln-Pyrmont, und „um die Ecke“, in die Dietrich-Eckhardstraße Nr. 5, zog mit Karl Schünemann ein weiterer „altgedienter“ Führungskader.
Die hier wohnenden NS-Funktionäre wurden nach 1945 wie alle anderen Hamelner Nazis kaum zur Rechenschaft gezogen. Allerdings gereichte die vormals privilegierte Wohnadresse nun zum empfindlichen Nachteil, indem die britische Besatzungsmacht alle Häuser bis in die 1950er Jahre hinein beschlagnahmte und ihre Besitzer sich anderswo eine Bleibe suchen mussten.[iv] Da auch 13 der 14 Häuser der angrenzenden Hermann-Löns-Straße betroffen waren, war die vormalige „Bergstadt“ als einziges Viertel Hamelns praktisch geschlossen geräumt. Dass die Besatzungsmacht hier politisch gezielt gehandelt hat, ist anzunehmen. Die meisten alten Bewohner konnten später wieder in ihre Häuser zurückkehren, darunter Exbürgermeister Busching und die Witwe Kalusches.[v]
Die Stadt Hameln tilgte noch im Jahr 1945 die NS-Namen von den Straßenschildern; so wurden die Namen der beiden Altnazis Dincklage und Eckhard durch die zweier unverfänglicherer Heimatdichter ersetzt.[vi]
Bezugsfertige Häuser der „Frontkämpfersiedlung“ Ende 1936,
Quelle: NTZ vom 28./29.11.1936
„Die Frontkämpfersiedlung der SA-Standarte 164 vor der Vollendung“ Unter dieser Überschrift berichtet die NS-Presse Ende November 1936 u.a. folgendes: „Gas, Licht und Wasser sind in die Häuser geführt und diese an den Kanal angeschlossen. Jedes Haus ist fertig bis auf Kleinigkeiten … Im Erdgeschoss finden wir die große, helle Küche und zwei Wohnzimmer mit breiten schönen Fenstern. Im ersten Obergeschoß liegen zwei Schlafzimmer und die sanitären Anlagen.“ „Jedes Grundstück hat einen … großen Garten hinter dem Haus, der genügend groß ist, den Siedler mit den notwendigen Gartenfrüchten … zu versorgen.“ (NTZ Weserbergland vom 28./29.11.1936)
Autor: Dr. Mario Keller-Holte
[i] Der Text orientiert sich an Wittkowsky, Johann, Die bauliche Entwicklung Hamelns 1919-1939, Hameln 1991, S. 3ff. und S. 7ff., außerdem wurden die von Wittkowsky benutzten Berichte in der Dewezet (4.12.1935,18.5.1936, 11.7.1936) und NTZ (28./29.11.1936) herangezogen sowie die Akte Nr. 2680, aus Best. 1 des Stadtarchivs Hameln.
[ii] Vgl. die entsprechenden Artikel bei www.wikipedia.de
[iii] Vgl. diese website, Menüpunkt „NS-Täter“, zu Kalusche außerdem: www.Gelderblom-Hameln.de, Menüpunkt „NS-Zeit in Hameln“. Zu den hier genannten und anderen Hamelner NS-Größen sind Überlieferungen im Bundearchiv Berlin und anderen Archiven vorhanden, Nachweise beim Autor.
[iv] Dies geht aus den Adressbüchern von Hameln aus den Jahren 1950 und 1953 hervor.
[v] Dazu wurden die entsprechenden Einträge in den genannten Adressbüchern mit denen in das Adressbuch Hamelns von 1965 verglichen.
[vi] Vgl. Pieper, Gerhard, Hamelner Straßen, Hameln, 2005, S. 35 und S. 61.
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