Orte der Erinnerung für die Opfer des Nationalsozialismus
im Kreis
Hameln-Pyrmont und angrenzenden Orten
Die vergessenen Kindergräber des Nienstedter Waldfriedhofes
Von Bernhard Gelderblom
Das Schullandheim in Nienstedt als „Ausweichkrankenhaus“
Wegen der starken Bombenangriffe auf Hannover war die „Hannoversche Kinderheilanstalt“ Ende 1943 in das kleine Dorf Nienstedt am Deister gezogen. Das Kinderkrankenhaus wurde im Schullandheim der hannoverschen Herschelschule untergebracht. Über die Zustände im „Ausweichkrankenhaus“ ist wenig bekannt. Die Raumsituation muss äußerst beengt gewesen sein. Um die größten Nöte zu beheben, stellte man eine Baracke auf.
Der Einzugsbereich des Krankenhauses war außerordentlich groß. Er umfasste neben der Stadt Hannover die Landkreise Hannover, Springe, Schaumburg, Nienburg und den nördlichen Landkreis Hildesheim.
Nach dem Kriege bestand das „Ausweichkrankenhaus“ in Nienstedt noch mehrere Jahre weiter, bis es schrittweise zurück nach Hannover zog. 1951 wurden die Gebäude der hannoverschen Leibnizschule als Schullandheim übergeben.
Das Schullandheim als „Ausweichkrankenhaus der Hann. Kinderheilanstalt“ (= Inschrift auf dem Schild).
Undatierte Fotos aus den 1940er Jahren. Im linken Bild ist eine zusätzliche errichtete Baracke zu sehen.
(Fotos: Archiv des Schullandheims der Leibnizschule Hannover)
Die Sterblichkeit der Kinder – überwiegend Säuglinge im Alter von unter einem Jahr – war sehr hoch. Aus den Totenbüchern der „Hannoverschen Kinderheilanstalt“ (heute Krankenhaus auf der Bult) und den Sterbebüchern des Standesamtes Nienstedt ist bekannt, dass im Zeitraum des Bestehens des Ausweichkrankenhauses 1.248 Kinder starben, die weitaus meisten 1945 und 1946.
Die sehr hohe Zahl von Gestorbenen zu bewerten, ist ohne Kenntnis der absoluten Belegungszahlen nicht möglich. Wir wissen, dass die Kleinkinder häufig in einem sehr bedenklichen Zustand eingeliefert wurden. Ärzte und Schwestern arbeiteten in Nienstedt unter äußerst schwierigen Umstanden. Die medizinischen Möglichkeiten der Behandlung von Kleinkindern waren damals sehr eingeschränkt.
Der Nienstedter Waldfriedhof
Die ersten Bestattungen von Kindern in den Jahren 1943 und 1944 erfolgten auf dem Nienstedter Gemeindefriedhof. Dagegen soll es Proteste aus der Dorfbevölkerung gegeben haben, auch wegen angeblicher Ansteckungsgefahren. Diese Gräber existieren schon lange nicht mehr.
Spätestens Anfang 1945, als täglich mehrere Kinder starben, legte das Krankenhaus in knapp einem Kilometer Entfernung zum Schullandheim einen „Notfriedhof“ an. Das Gelände gehört der Forst. Anders als das Schullandheim liegt es nicht auf dem Boden der Gemeinde Nienstedt (heute Ortsteil von Bad Münder, Landkreis Hameln-Pyrmont), sondern auf dem der Gemeinde Messenkamp (heute Ortsteil der Samtgemeinde Rodenberg, Landkreis Schaumburg).
Die Friedhofsakten scheinen verloren gegangen bzw. vernichtet worden zu sein. Ein Beerdigungsbuch, das die einzelnen Beerdigungen verzeichnet, und ein Belegungsplan, der die genaue Lage der Gräber festhält, sind in den Archiven nicht mehr aufzufinden.
Im Archiv des ITS Bad Arolsen hat sich ein Schreiben der „Hannoverschen Kinderheilanstalt“ erhalten, das einen Belegungsplan über 89 Grabstellen mit der konkreten Bezeichnung der Lage von 9 Ausländergräbern enthält. Auf der Rückseite befindet sich ein „Lageplan des Waldfriedhofes der Hannoverschen Kinderheilanstalt in Nienstedt“, eine per Hand gezeichnete Karte, aus welcher der Weg von der Kinderheilanstalt zum Waldfriedhof hervorgeht.
Belegungsplan (links) und Lageplan (rechts)
Der Belegungsplan verzeichnet 89 Grabstellen, darunter fünf polnische Gräber, sowie je ein holländisches, flämisches (= belgisches),
griechisches und ukrainisches Grab.
Der „Lageplan“ zeigt den Waldfriedhof, den Bach, der den Teich auf dem Gelände speist, die Kinderheilanstalt, die zusätzliche Baracke
und die Landstraße, die Nienstedt und Messenkamp verbindet.
(Quelle: ITS Bad Arolsen)
Der Friedhof diente nur einer geringen Zahl der im Notkrankenhaus gestorbenen Kinder als Bestattungsort. Die Mehrzahl der kleinen Körper ist von der Angehörigen in ihren Heimatorten beerdigt worden. Im Karton, einer Tasche, auf dem Arm seien sie – so beschreiben es Zeitzeugen – weggetragen worden. Die Umstände der Bestattungen in Nienstedt dürften wenig würdig gewesen sein. So heißt es in einer Eintragung im verloren gegangenen Nienstedter Friedhofsverzeichnis (zitiert nach Deister-Anzeiger vom 24. April 1996):
„In dem großen Sarg vom 19.4.1945 lagen 6 Kinder.“
Die in Nienstedt gestorbenen ausländischen Kinder
Die Namen der in Nienstedt bestatteten deutschen Kinder lassen sich aus den Unterlagen des Standesamtes und der Sterbebücher des Krankenhauses leider nicht mehr ermitteln. Das ist anders bei den ausländischen Kindern. Die alliierten Militärbehörden hatten die deutschen Behörden nach Kriegsende verpflichtet, ausländische Opfer des Krieges, insbesondere Kriegsgefangene und Zwangsarbeiter, und ihre Begräbnisorte zu melden. Die Unterlagen, die auf diese Weise gesammelt wurden, liegen im Archiv des Suchdienstes des Internationalen Roten Kreuzes (ITS) in Bad Arolsen. Sie enthalten Listen über in Nienstedt gestorbene ausländische Kinder mit Angabe des Begräbnisortes.
107 ausländische Kinder starben in Nienstedt. Davon wurden 18 auf dem Waldfriedhof bestattet. Der Höhepunkt des Sterbens sind die Monate Juli, August und September des Jahres 1945, also die Monate unmittelbar nach Kriegsende.
Die Mütter der Kinder waren ausländische Zwangsarbeiterinnen, weit überwiegend aus Polen (64) und aus Russland bzw. der Ukraine (11). Vertreten sind aber auch je vier belgische, niederländische und italienische Kinder.
14 Kinder hatten ihre Mütter auf dem erzwungenen Weg in die Zwangsarbeit aus ihren Heimatländern nach Deutschland mitgenommen. Die übrigen waren in Deutschland zur Welt gekommen, davon z.B. fünf im sog. „Ausländer-Wöchnerinnenheim“ Godshorn in Hannover.
Ein Großteil der Mütter „wohnte“ in Hannover in den großen Zwangsarbeitslagern, welche die Industrie unterhielt. 13 kamen aus dem Lager der Dynamit Nobel AG in Empelde und 8 aus dem Lager Mühlenberg. Andere waren außerhalb Hannovers teils in der Industrie, teils in der Landwirtschaft eingesetzt.
Während die Mütter ihrem zwölfstündigen Arbeitstag nachgehen mussten, waren sie in den engen und häufig unbeheizten Baracken sich selbst überlassen. Die Kinder starben an den Folgen der katastrophalen Vernachlässigung und Unterernährung.
Das wenige, was aus den Akten über die Kinder zu erfahren ist, soll an einem Beispiel verdeutlicht werden:
Luzoa Mintschenko wurde am 26. Januar 1944 im „Ausländer-Wöchnerinnenheim“ in Hannover-Godshorn geboren. Seine Eltern, die aus Russland stammenden Zwangsarbeiter Arkadi und Raffa Mintschenko, lebten in Hannover-Linden, Davenstedter Str. 14.
Der Säugling starb am 27. Juni 1944 an Tuberkulose.
Die Namen der auf dem Waldfriedhof Nienstedt bestatteten ausländischen Kinder
Von den 107 im „Ausweichkrankenhaus“ der Kinderheilanstalt Hannover in Nienstedt verstorbenen ausländischen Kindern wurden 18 auf dem Waldfriedhof in Nienstedt beerdigt. Die Angaben zur Todesursache folgen den Angaben in den Totenbüchern.
Christine Beckers wurde am 25. Oktober 1943 in Ath in Belgien geboren.
Ihre Eltern, der Sanitäter Andre Beckers und seine Frau Lea Ivonne waren vermutlich Zwangsarbeiter.
Christine starb am 17. September 1944 an „Magen- und Darmkatarrh“.
Johann Bocian wurde am 8. Juli 1943 in Wernigerode geboren. Seine Eltern waren die polnischen Zwangsarbeiter Johann und Wawrieka Bocian, die in einem Lager in Barsinghausen leben mussten.
Johann starb neun Tage nach seiner Einlieferung am 2. August 1945 an Herzversagen.
Christina Bolko wurde am 13. September 1943 in Nienstedt geboren. Ihre ledige Mutter Lydia, eine Zwangsarbeiterin aus Russland, war auf dem Hof Nienstedt Nr. 2 im Einsatz.
Christina starb am 8. Januar 1944 an einer Lungenentzündung.
Marian Bolko wurde am 1. März 1945 in Nienstedt geboren. Seine ledige Mutter Lydia, eine sowjetische Zwangsarbeiterin aus Russland, war auf dem Hof Nienstedt Nr. 2 im Einsatz.
Der Säugling starb am 28. März 1945 an „Lebensschwäche“.
Edward Dembowsky wurde am 21. Februar 1945 in Degersen bei Wennigsen geboren. Seine namentlich nicht bekannte polnische Mutter, derzeit Zwangsarbeiterin, lebte seit Kriegsende im DP-Lager Hannover-Empelde.
Edward starb am 22. August 1945 an „Darmkatarrh“.
Stanislawa Fabisiak wurde am 16. Mai 1943 in Warschau geboren.
Ihre Mutter Sophie war Polin und musste als Zwangsarbeiterin in Nienburg im Lager der Holzbaufirma Hermann Rabe leben.
Stanislawa starb am 15. Februar 1945 an „Ernährungsstörung“
Ahihras Jiazitsian wurde am 25. Mai 1945 in Hannover geboren. Seine Eltern waren Evangeliv und Esther Iiazitsian, vermutlich ehemalige sowjetische Zwangsarbeiter aus Armenien.
Am 14. August aufgenommen, starb der Säugling am 9. September 1945 an „Darmkatarrh“
Wassily Kondratjuk wurde am 29. Januar 1946 in Lubik in der Ukraine geboren. Seine ledige Mutter Lydia lebte als ehemalige Zwangsarbeiterin in Hannover im DP-„Lager Lyssenko“, Möckernstraße 27.
Der Säugling starb am 5. März 1946 an „Herzlähmung“.
Henry Joseph Malardier wurde am 10. Februar 1945 vermutlich in Eldagsen geboren. Seine Eltern, die Belgier Heinrich und Fernanda Malardier, lebten in Eldagsen, Kirchstr. 7.
Der Säugling starb am 8. Juli 1945 an „Magen- und Darmkatarrh“.
Siegmund Malkowind wurde am 3. November 1944 in Lemberg in der heutigen Ukraine geboren. Seine ledige Mutter Janina war als polnische Zwangsarbeiterin in Hannover-Linden, Fannystr. 1, einquartiert.
Der Säugling starb am 30. März 1945 an „Darmkatarrh“ und wurde in Nienstedt am 11. April 1945 in einem „Massengrab“ bestattet.
Hendryk Mikulewitsch wurde am 7. Juli 1945 in Hannover-Kleefeld geboren. Seine ledige Mutter Jadwiga, wahrscheinlich eine Polin, lebte als ehemalige Zwangsarbeiterin im DP-Lager Hannover-Empelde.
Der Säugling starb am 17. August 1945 an „Ernährungsstörung“.
Luzoa Mintschenko wurde am 26. Januar 1944 im „Ausländer-Wöchnerinnenheim“ in Hannover-Godshorn geboren. Seine Eltern, die aus Russland stammenden Zwangsarbeiter Arkadi und Raffa Mintschenko, lebten in Hannover-Linden, Davenstedter Str. 14.
Der Säugling starb am 27. Juni 1944 an Tuberkulose.
Alfred Pasternak wurde um 18. Juli 1930 geboren. Sein Nachname lässt einen Geburtsort in Russland vermuten. Über seine Eltern, die sicherlich Zwangsarbeiter waren, ist nichts bekannt. Alfred kam aus dem Stephansstift in Hannover am 16. Oktober 1943 als erstes Kind in das damals neu eingerichtete „Ausweichkrankenhaus“ der Kinderheilanstalt Hannover in Nienstedt.
Das Kind starb zwei Tage später, am 18. Oktober 1943, an Tuberkulose und wurde am 21. Oktober 1943 bestattet.
Jerzy Rynard Pedzich wurde am 30. Juni 1945 in Hannover geboren. Seine ledige Mutter Michalina, vermutlich eine Polin, lebte als ehemalige Zwangsarbeiterin im DP-Lager in Hannover-Empelde.
Der Säugling starb am 26. August 1945 an „allgemeiner Körperschwäche und Ernährungsstörung“.
Eduard Podyma wurde am 25. Januar 1945 in Westerburg geboren. Seine ledige Mutter Eva, vermutlich eine Polin, musste derzeit als Zwangsarbeiterin in Hannover-Kleefeld leben.
Das Kind starb am 28. August 1945 an „Ernährungsstörung, Kreislaufschwäche“.
Anna Schwiderska wurde am 18. Oktober 1944 in Hamburg geboren. Ihre ledige Mutter Sophia, derzeit polnische Zwangsarbeiterin, lebte nach Kriegsende in einem Lager, das zur großen Munitionsfabrik bei Steyerberg-Liebenau im Landkreis Nienburg gehört hatte.
Das Kind starb am 23. Juli 1945 drei Wochen nach seiner Aufnahme im „Ausweichkrankenhaus“ an „Gehirnhautentzündung“.
Ljuba Stachostnaja wurde am 22. September 1939 in Chritonkowa bei Witebsk in Weißrussland geboren. Ihre Eltern Michael und Melanja Stachostnaja waren als Zwangsarbeiter in einem Lager der Brinker Eisenwerke in Hannover, Brinkerhafenstraße, einquartiert.
Das Kind starb am 7. Juni 1944 an „Darmakzidose und allgemeiner Entkräftung“.
Stephan Wojek (oder Wojnik) wurde am 15. September 1943 in Stadthagen geboren. Seine ledige Mutter Anna, eine polnische Zwangsarbeiterin, war als Landarbeiterin in Bad Nenndorf, Erlengrundstr. 13, im Einsatz.
Der Säugling starb am 7. Dezember 1943 an „Ernährungsstörung“.
Die ausländischen Zwangsarbeiterinnen und Zwangsarbeiter und ihre Kinder
Die große Mehrzahl der während des Zweiten Weltkrieges aus Polen und der Sowjetunion nach Deutschland verschleppten Frauen und Mädchen war unverheiratet. Ihre Situation war besonders schwierig.
Die Zwangsarbeiterinnen Stanislawa B. aus Polen (links) und Maria L. aus Russland (rechts) mit der vorgeschriebenen, diskriminierenden
Kennzeichnung.
(Quelle: Kreisarchiv Hameln-Pyrmont und Sammlung Bernhard Gelderblom)
Die Arbeitskräfte aus dem Osten waren einem extremen Druck ausgesetzt. In einer fremden, teilweise feindlichen Umgebung bedeuteten Liebesbeziehungen ein wenig Halt und Wärme. Die Legalisierung einer Beziehung durch Heirat ließen die NS-Behörden nicht zu.
Für die schwangeren Ausländerinnen wurden Entbindungsstationen und „fremdvölkische Kinderheime“ auf unsäglich primitivem Niveau eingerichtet. Hier wurden die Kinder verwahrt, um die Arbeitskraft der Mütter uneingeschränkt nutzen zu können. Die Sterblichkeit war extrem hoch. Die Mütter mussten die Entbindungsstationen bereits nach acht bis zehn Tagen verlassen und zurück an ihren oft weit entfernten Arbeitsplatz. „Ostarbeiterinnen“, also Frauen aus der Sowjetunion, wurde die Abtreibung nahe gelegt, die deutschen Frauen damals streng verboten war.
Das Leid, das den Kindern und ihren Eltern aus den katastrophalen Lebensbedingungen in den Lagern erwuchs, lässt sich kaum ermessen. Die Ukrainerin Dorothea T., geb. am 27. November 1923 in Charkow, musste in Bad Pyrmont in einem Haushalt arbeiten.
Sie schreibt:
Manches junge Mädchen suchte ein bisschen Geborgenheit, z.B. ein Polenmädchen bei einem jungen Mann aus Polen. Sie wurde schwanger und gebar ein Kind.
Doch dann passierte das Schrecklichste, was ich als Zwangsarbeiterin erlebt habe. Kurz nach der Geburt wurde das Kind rücksichtslos von der Mutter getrennt. Menschen der deutschen Behörde holten es ab, ohne dass die Mutter jemals wieder die Möglichkeit hatte, mit ihrem Kind Verbindung aufzunehmen. Für uns alle war das unfassbar und kam einer Beerdigung gleich.
Die Polin Bronislawa K., geboren am 8. Dezember 1943 im Lager der Rüstungsfabrik „Domag“ in Hameln, berichtet:
Wir sind in unmenschlichen Verhältnissen geboren worden. Ich weiß noch, wie meine Mutter später erzählte, dass sie bereits zwei Wochen nach meiner Geburt wieder arbeiten musste. Wenn es im Lager Mittagessen gab, kam sie mich füttern und windeln.
In der Baracke war es sehr kalt, so dass abends, wenn alle nach Hause kamen, in einem Ofen mit Holz geheizt wurde. Der Ofen stand mitten im Zimmer. Ich bitte Sie, sich das vorzustellen: Als Säugling im Dezember in einer kalten Baracke, drei Mal täglich gefüttert, zugedeckt mit mehreren schmutzigen Decken, die man von einer Freundin geliehen hatte, ohne Pflege, ohne richtige Ernährung und in katastrophalen hygienischen Verhältnissen. Die Kinder, die dort geboren sind und das erlebt haben, sind bis heute geschädigt.
Die Polin Frau Janina Z., 1942 auf einem Bauernhof in Coppenbrügge im Kreis Hameln-Pyrmont geboren, schreibt/berichtet:
Als ich am 22. Juni 1942 in Coppenbrügge geboren wurde, musste meine Mutter trotzdem arbeiten gehen, und zwar zwei Kilometer weiter weg im Feld. Alle drei Stunden ging meine Mutter zu Fuß vom Feld nach Hause, um mich zu stillen. Ich habe eine sehr schlimme Kindheit gehabt. Keiner hat auf mich aufgepasst. Ich lag allein im Bett. Meine Mutter erzählte mir manchmal, dass sie sehr oft geweint hat, weil sie ihr Kind allein lassen musste. Sie dachte, dass ich es nicht überleben würde.
Zitate aus Bernhard Gelderblom, „Aber das Schlimmste waren das Heimweh und der Hunger“.
Briefe nach 60 Jahren. Ausländische Zwangsarbeit in und um Hameln 1939-1945, Holzminden 2004
Der Waldfriedhof seit den 1950er Jahren
Der Zustand in den 1950er Jahren
Der notdürftig eingezäunte Friedhof lag damals auf freiem Feld. Die kleinen, mit Bruchsteinen gerahmten Grabhügel trugen schlichte namenlose Holzkreuze.
Das linke Foto, vermutlich aus den frühen 1950er Jahren, zeigt verunkrautete Gräber mit einer Bruchsteinumrandung, einheitliche
Holzkreuze, eine Umzäunung, rings eine Weide, den fernen Wald. Vermutlich etwas später ist das rechte Foto zu datieren, auf dem
Jungen der Leibnizschule Hannover die Gräber säubern und pflegen. Zu sehen sind teilweise neue Holzkreuze aus ungeschälter Fichte,
eine Abdeckung mit Moos und teilweise eingelegte Kreuze. Erkennbar sind wie auf dem Belegungsplan 6 ½ Grab-Reihen.
(Fotos: Archiv des Schullandheims der Leibnizschule Hannover)
Nach einem Pressebericht unter der Überschrift „Friedhof der Vergessenen“ war der Zustand 1959 bedenklich.
Die Nienstedter sprechen von ihm mit einer Spur schlechten Gewissens.
„Die Sache ist denkbar unglücklich“, sagt Nienstedts Gemeindedirektor Nagel. Nach seinen Worten kümmert sich das hannoversche Krankenhaus nicht mehr um seinen Friedhof. Vor einigen Jahren wurde die Gemeinde gebeten, sich um die vergessenen Grabstätten zu kümmern. Sie traf angeblich eine Absprache mit dem Schulheim, das die Pflege übernehmen wollte.
So fühlt sich niemand zuständig, und wo es keine Zuständigkeit gibt, hat die Pietät ihr Recht verloren. (Neuer Landes-Dienst Hannover vom 30. September 1959)
Der Zustand zwischen 1960 und 2000
1966 wurde der Waldfriedhof 1966 eingeebnet. Der Regierungspräsident in Hannover hatte auf Drängen der Gemeinde Nienstedt, die argumentierte, dass hier Kleinkinder bestattet seien, die gesetzliche Ruhefrist von 25 Jahren auf 15 verkürzt. Der Regierungspräsident forderte aber die Errichtung eines „Erinnerungskreuzes“.
Das „Gesetz über die Erhaltung der Gräber der Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft“ verlangt den dauernden Bestand der Gräber auch von Kindern. Dies mag den Verantwortlichen – nicht untypisch für die Zeit – nicht bewusst gewesen sein.
Zur Errichtung eines Gedenkkreuzes ist es nie gekommen. Die Existenz des „Ausweichkrankenhauses“, das zahlreiche Fremde ins Dorf brachte und viele tote Kinder zur Folge hatte, dürfte im abgeschiedenen Nienstedt als Belastung empfunden worden sein, der man – so die nahe liegenden Vermutung – durch Verschweigen begegnete.
1977 gab es Bestrebungen, einen Gedenkstein zu errichten, die wiederum nicht realisiert wurden. 1986 war der Friedhof von zwischenzeitlich angepflanzten Tannen überwachsen und 1996 im Wald verschwunden. An die gestorbenen Kinder erinnerte nichts mehr.
Setzung eines Gedenksteines und Freilegung des Friedhofgrundstücks im Jahre 2001
Im Jahre 2001 setzte der Verein Schullandheim Nienstedt der Leibnizschule Hannover mit Hilfe der Forst und des Kinderkrankenhauses auf der Bult einen Gedenkstein für den „Friedhof der Vergessenen“ und stellte eine Informationstafel auf. Die Initiative ging auf das Engagement des Heimleiterehepaars Knittel zurück. Anschließend machte die Forst das Gelände des Friedhofs durch Rodung wieder sichtbar.
Der 2001 gesetzte Gedenkstein mit Inschriftentafel
(Foto: Gelderblom 2012 )
Laut Inschrift auf dem Gedenkstein wurden hier „91 oftmals namentlich unbekannt gebliebene Flüchtlingskinder bestattet“. Warum allerdings die Inschrift nicht auch die viel zahlreicheren deutschen Kinder aus Hannover und Umgebung und die ausländischen Kinder nennt, gibt Rätsel auf.
Der Nienstedter Waldfriedhof vor der Neugestaltung. Links das Gräberfeld, rechts der 2001 gesetzte Gedenkstein
mit Informationstafel
(Fotos Gelderblom 2012)
Die Neugestaltung im Jahre 2014/15
Die Geschichte des Nienstedter Waldfriedhofs und die Herkunft der hier begrabenen Kinder war bis zuletzt bei den Menschen vor Ort Anlass für Gerüchte. Nach Aussage einer Zeitzeugin, die 1950 in Nienstedt Schwesternschülerin war, seien hier „ausländische, nichtarische Kinder verscharrt“ worden, weil man sie auf dem Gemeindefriedhof nicht habe dulden wollen.
Seit 2009 hat sich der Hamelner Historiker Bernhard Gelderblom mit der Geschichte des Friedhofs befasst und die Namen und Schicksale der verstorbenen Kinder recherchiert. Der heutige Kenntnisstand lässt es zu, aller Opfer zu gedenken, der ausländischen Kinder, der Kinder aus Hannover und Umgebung und der Flüchtlingskinder.
Da auf dem Friedhof Kinder von ausländischen Zwangsarbeiterinnen, mithin Kriegsopfer, ruhen, ließ sich der Friedhof als Kriegsgräberstätte ausweisen. Damit waren die dauerhafte Erhaltung der Anlage und die Errichtung eines gemeinsamen Grabzeichens gewährleistet. Die Leibnizschule als Trägerin des Landschulheims hat sich bereit erklärt, das Gelände des Friedhofes zu pflegen.
Schülerinnen und Schüler des Kunst-Leistungskurses der Leibnizschule Hannover haben sich 2013 zusammen mit ihrer Lehrerin Juliane Köhler mit der Gestaltung eines gemeinsamen Grabzeichens für den Waldfriedhof befasst. Eine Jury hat aus den entstandenen Entwürfen das Modell von Ksenia Kovelina ausgewählt. Es zeigt zwei einander zugewandte Köpfe von Mutter und Kind. Die Umsetzung in Stein hat Ksenia Kovelina zusammen mit dem Bildhauer Frank Brinkmann (Grimma), dem Steinmetz Stephan Graf (Lauenau) und der Kunstlehrerin Juliane Köhler (Hannover) im Jahre 2015 realisiert.
Die Neugestaltung entstand in Kooperation von Forstamt, Samtgemeinde Rodenberg, Gemeinde Nienstedt, Leibnizschule, Krankenhaus auf der Bult, Volksbund deutsche Kriegsgräberfürsorge und dem Historiker Bernhard Gelderblom.
Die Einweihung am 1. Juli 2015
Die neu gestaltete und eingefriedete Fläche des Friedhofs
Die Skulptur von Ksenia Kovelina
Der Stein mit der Widmung des
Vereins Schullandheim Nienstedt der Leibnizschule
Zwei Schülerinnen der Leibnizschule bei Ihrer Ansprache
(Sämtliche Fotos: Bernhard Gelderblom 2015)
Die drei Stelen mit den Namen der hier bestatteten Kinder
Die Geschichts- und Erinnerungstafel des Volksbundes
Bei der Kranzniederlegung an den Namensstelen.